Die Grafenglocke
Es ist Samstag der 30. März 1596.
Auf der Burg der Manderscheider Grafen in Kail herrscht große Freude. Ein Stammhalter ist endlich da. Die Eltern, Graf Diedrich II. von Manderscheid-Kail und Gräfin Anna Amalia von Manderscheid-Schleiden, geben ihrem kleinen Sohn den Namen Philipp Diedrich.
Im Jahre 1613 stirbt Graf Diedrich und Philipp Diedrich übernimmt im Alter von nur siebzehn Jahren die Herrschaft in einer schwierigen Zeit, denn nur fünf Jahre später beginnt der Dreißigjährige Krieg und bringt über die Eifelbevölkerung großes Leid und Elend. Zerstörung, Verwüstung, Plünderung, Mord, Hunger und Seuchen, vor allem Beulenpest und Typhus, sind nun an der Tagesordnung.
Am Samstag den 4. März 1628 heiratet Philipp Diedrich die einundzwanzig jährige Gräfin Elisabeth Amalia von Löwenhaupt, Tochter des schwedischen Grafen Steno von Löwenhaupt und Magdalena von Manderscheid-Schleiden. Durch die Heirat erhält Philipp Diedrich die Grafschaften Manderscheid und Falkenstein an der Our. Philipp Diedrich und Elisabeth Amalia bekommen fünfzehn Kinder.
Maria Elisabeth von Manderscheid-Kail kommt am 12.März 1630 zur Welt und heiratet später den Grafen Axel von Löwenhaupt.
Eugenia Maria Franziska wird am 9.Mai 1632 geboren. Sie heiratet Graf Johann Ludwig von Sulz.
Otto Ludwig wird Kölner Dompropst und Heinrich Adolf Kanonikus in Köln.
Anna Katharina und Maria Ursula werden Stiftsdamen im Reichsstift Thorn.
Magdalena Klara heiratet den Grafen Ernst Salentin v. Salm-Reifferscheidt-Dyck.
Juliane Margareta wird Nonne und Agatha Stiftsdame in Essen.
Hermann Franz Carl folgt dem Vater in der Regentschaft.
Philipp Theodor, Philipp Friedrich, Anna Salome, Ferdinand Adolf und Maria Anna Sidonia sterben schon im Kindesalter.
Philipp Diedrich regiert von 1613 bis 1653, also zu Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Da Kail seit 1552 unter luxemburgischer Lehnshoheit steht, nimmt der Graf nicht aktiv am Krieg teil. Er lebt sogar recht unbehelligt auf seinen Gütern an Kailbach, Salm und Lieser, während in unmittelbarer Nähe die schwedischen Truppen brandschatzen. Durch die Heirat mit Elisabeth Amalia, einer Enkelin des Schwedenoberst Axel Löwenhaupt, hat Philipp Diedrich Ansehen und Einfluss auf die fremden Befehlshaber.
Besonders helfen kann er den beiden Himmeroder Äbten Matthias Glabus aus Lieser und Friedrich Brandt aus Kyllburg. Beide fliehen mehrmals vor den Kriegstruppen mit dem Konvent auf die Kailer Burg.
Kurz vor Beendigung des Dreißigjährigen Krieges wird Kail im September 1648 von den Franzosen abgebrannt. Auch die gräfliche Burg wird nicht verschont und erleidet schwere Schäden. Wenige Monate später wird der Ort ein zweites Mal durch die Franzosen unter General Reinhold von Rosen eingenommen. Erst um 1700 wird vom Grafen Carl Franz Ludwig ein neues Schloss erbaut. Es schließt im Westen an die alte Burg an. Der Zugang zum Wasserschloss führt über den alten Burghof.
Die Burg gelangte 1794 im Zuge der Französischen Revolution in privaten Besitz. Um das Jahr 1811 wurde die Schlossanlage in Kleineigentum aufgeteilt und zu großen Teilen abgebrochen. Geringe Reste der Anlage sind heute noch sichtbar.
Graf Philipp Diedrich von Manderscheid-Kail ist ein gottesfürchtiger Regent. Zum Himmeroder Abt pflegt er eine sehr freundschaftliche Verbindung. Im Jahre 1636 lässt er auf Anregung von Abt Matthias Glabus auf einem Hügel nahe seiner Kailer Burg eine Kapelle bauen, die Kapelle Frohnert. Am 14. August 1639 erteilt der Trierer Weihbischof Otto von Senheim dem Manderscheider Grafen die Erlaubnis, in der weitgehend fertiggestellten Kapelle der Heiligen Maria, des hl. Rochus und anderer Heiliger, die heilige Messe auf einem transportablen Altarstein feiern zu lassen.
Auch in der Grafschaft Manderscheid lässt Philipp Diedrich Gotteshäuser erbauen oder erweitern. So auch die kleine Kapelle in Schladt, deren Schlussstein im Chorgewölbe noch heute sein Wappen trägt.
Von seiner Burg in Kail regiert er auch über die alte Niederburg am Stammsitz Manderscheid. Er hält sich aber nur gelegentlich auf der Burg im Liesertal auf. Zwei Jahre nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges stiftet er im Jahre 1650 eine kleine Glocke für die Burgkapelle, die sogenannte Grafenglocke. Ein Wanderglockengießer gießt sie direkt auf der Burg zu Niedermanderscheid. Trotz der Nähe zur gräflichen Eisenhütte in Eisenschmitt ist die Glocke nicht an der Salm gegossen worden, die Eisenschmitter Glockengießer Matthias und Michael Freywaldt waren erst zwischen 1692 und 1722 tätig. Der Graf lässt neben seinem Wappen folgende Inschrift auftragen:
Von Jesus bleib ich recht wolgenant -Philips Diederich Graf im Lant - 1650
Drei Jahre nach Stiftung der Glocke stirbt Philipp Diedrich am 25. Mai 1653.
Sein Sohn Hermann Franz folgt ihm in der Regentschaft. Er bleibt bis zum Jahre 1686 Herrscher über Kail und auch Manderscheid. Von da an sollte es nur noch gut fünfzig Jahre dauern, bis die Linie Manderscheid-Kail ausstirbt. Die letzten Regenten sind Carl Franz Ludwig (1686 - 1721) und sein Bruder Wolfgang Heinrich (1721 - 1742). Auf Grund einer Erbvereinbarung fällt daraufhin die Herrschaft Manderscheid-Kail an den Blankenheimer Zweig der Familie. Da die Linie Schleiden schon nach der Hochzeit von Philipp Diedrich mit Elisabeth Amalia erloschen war, ist die Familie der Manderscheider nun wieder vereint. Bis 1794 bleibt das Blankenheimer Schloss Sitz der Grafen von Manderscheid.
Für die Glocke in der Manderscheider Burgkapelle bleiben die Zeiten weiterhin unruhig. Die Reunionspolitik des französischen Königs Ludwig XIV., sowie der Pfälzische und Spanische Erbfolgekrieg setzen dem Land und seinen Bewohnern sehr zu. Im Zuge der Reunionskriege marschieren französische Truppen kreuz und quer durch die Eifel und zerstören dabei auch viele Burgen. 1675 lässt der französische Marschall Fourille die Burgen in Flammen aufgehen.
Im Jahre 1711 lässt Graf Carl Franz Ludwig umfangreiche Baumaßnahmen an der Niederburg durchführen, um sie wieder bewohnbar zu machen. Ende des 18. Jahrhunderts ist sie noch bewohnbar, wie die noch um 1780 von den Dörfern der Grafschaft verlangten Wachdienste zeigen. Im Jahre 1787 wird die Burgkapelle der Niederburg durch erzbischöfliche Verfügung wegen Baufälligkeit und unwürdigen Zustand geschlossen. Gottesdienste finden keine mehr statt und die Grafenglocke verstummt im Liesertal. Drei Jahre später berichtet der Kurtrierische Amtsverwalter Goswin Caspar Lintz, dass die Burg verfallen und nicht mehr bewohnbar sei. 1794 wird die Niederburg durch französische Revolutionstruppen zerstört und der Herrschaft der Manderscheider Grafen in der Eifel ein endgültiges Ende gesetzt. Ab 1806 wird die Burg auf Abbruch versteigert. Am 11. Mai 1811 kaufen Matthias Vogel aus Temmels an der Obermosel und sein Schwager Otto Bettingen, Kaufmann und Bürgermeister von Neuerburg in der Eifel, Kapelle, Pferdestall, Wiese und Ackerland der Burg. Der Kaufpreis beträgt 700 f. Laut Verkaufsprotokoll ist die Glocke der Burgkapelle bereits für den Pfarrer von Buchholz Wendelin München reserviert.
Der Grafenglocke bleibt so das Schicksal der meisten Glocken, das Einschmelzen zu Kriegsgerät, erspart. Nach mehr als 150 Jahren muss sie das Tal der Lieser verlassen und findet in der Kapelle auf den Höhen von Buchholz ihren neuen Platz.
Als Siedlung wird Buchholz zum ersten Mal im Jahre 1396 mit einem Hof erwähnt. Nach der Überlieferung befand sich dort in einer alten Buche ein Muttergottesbild, das von vielen umliegenden Dörfern verehrt wurde. Dieses Bild soll der Stätte den Namen gegeben haben. Als 1676 eine Kapelle hier errichtet wird, findet das Bild in dieser seinen Platz. Die Kapelle "Maria Buchholz" dient als Pfarrkirche für Eckfeld, Niedermanderscheid und Pantenburg mit dem Neuenhof. Der Kapelle angeschlossen ist eine Eremitage. Diese diente dem ersten Pfarrer Wendelin München als Pfarrhaus. 1805 wird Buchholz Pfarrei. Bis dahin gehörte es zur Pfarrei Laufeld und zur luxemburgischen Grafschaft Manderscheid. 1823 erhält die Kirche einen Turm und ein prachtvolles Sandsteinportal aus dem von den Franzosen aufgelösten Kloster Himmerod. Es trägt das Wappen des Abtes Robert Hentges. Neben dem 1808 erbauten Pfarrhaus wird 1836 noch eine Küsterwohnung mit Schulsaal und 1864 das Kloster der Franziskanerbrüder errichtet. Diese verrichten bis 1948 den Küsterdienst in Buchholz und den Krankendienst in der Umgebung. Nach dem Abriss der alten Kapelle im Jahre 1903, erbaut Kreisbaumeister Köchling aus Wittlich in den Jahren 1904 bis 1906 die heutige Pfarrkirche Mariä Heimsuchung. Konsekriert wird sie am 4. Mai 1906 durch Weihbischof Karl Ernst Schrod. Die Buchholzer Kirche hat nur eine Glocke, die Grafenglocke aus der Burgkapelle von Niedermanderscheid, die man dank der Fürsprache des alten Pfarrers seiner Zeit von den Franzosen gekauft hatte. 1857 lassen die Buchholzer in der Brockscheider Glockengießerei Mark zwei neue Glocken gießen, zu denen die alte Grafenglocke tonlich aber nicht mehr passt. Die kleine Glocke hat ihren Dienst im Turm der Buchholzer Kirche getan. Nach nur fünfzig Jahren wird sie nach Trittscheid verkauft und läutet von nun an wieder hoch über der Lieser. Die Grafenglocke zieht von Buchholz in den kleinen Dachreiterturm der Trittscheider Thekla-Kapelle ein und ruft nun von dort oben für die nächsten einhundert Jahre die Einwohner des Eifelörtchens zum Gebet.
Der Brockscheider Eifeldichter Klaus Mark schrieb am 2. September 1955 in der Beilage der Trierischen Landeszeitung "Die Porta" folgenden Artikel über die Grafenglocke:
"Zwischen den beiden großen Verkehrsstraßen, die das Herz der Eifel mit der Kreisstadt Wittlich verbinden, liegt in mächtigen Vulkanbergen eingebettet das kleine unscheinbare Eifeldörfchen Trittscheid. In den Talwiesen eilt die junge Lieser in geschäftigen Tun gen Süden Manderscheid zu, und jenseits des Baches am steilen Hang und der 300-jährigen Mühle gegenüber leben noch kümmerliche Ruinenreste von der alten Pannebäckerei, deren letzter Meister der alte Kirst gewesen ist. Von Norden her blickt wie ein geharnischter Wächter die Basaltkuppe der Altburg über die bewaldeten Hänge ins Dorf hinein.
In der Dorfmitte steht ein kleines trautes Kirchlein, das die 20 Häuser um sich schart wie eine pflichttreue Mutter ihre Kinder behütet. Als jenes Kirchlein im Jahre 1774 erbaut wurde, hätte keiner der Baumänner glauben können, dass einmal eine vornehme Grafenglocke in das Glockenstübchen in den winzigen Dachreiterturm einziehen werde.
Das geschah erst 83 Jahre später, als die Glocke den hohen Turm der waldumrauschten Pfarrkirche Buchholz hat verlassen müssen. Die kleine Grafenglocke war den beiden neuen Schwestern, die am 13. August 1857 der Dammgrube des Brockscheider Glockenmeisters entstiegen, in Klang und Harmonie nicht ebenbürtig. Das hätte ihr zum Verhängnis werden können, denn als die Kirchenvorsteher von Buchholz dem Glockengießer die neuen Glocken in den Tönen a und cis in Auftrag gaben, war von Einschmelzen der alten Glocke die Rede. Also sie, die alt vornehme Grafenglocke sollte sterben, um den noch ungeborenen Schwestern zum Leben zu verhelfen. Ach das waren kritische Tage für die Zweihundertjährige, als man tief unter ihr auf dem Kirchplatz in Buchholz ihr Schicksal beriet. Wussten denn die Menschen ihr keinen Dank für die treuen Dienste während zweier Jahrhunderte? "Die Lebenden ruf ich, die Toten beklag ich, all Unheil vertreib ich!" Noch bittender, eindringlicher sucht in jenen Tagen ihr Klang das Herz der Menschen.
Als in der Gießerei die Formen für die beiden neuen Glocken fertiggestellt des Gusses harrten, duldeten diese keinen Aufschub mehr in der Entscheidung um das Schicksal der Grafenglocke. Da stand eines Mittags zur Kornschnittzeit der Glockenmeister mitten in der Gemeindeversammlung auf dem Kirchplatz zu Trittscheid und plädierte für die Grafenglocke.
"Zu euch her passt sie gut, der Turm ist groß genug. Nehmt sie, euch fehlt ein rechtes Angelus-Geläut. Dass die ehrbar Glock dran glauben soll, geht mir selber nah. Ich kann sie net zerschlagen, sie ist wert, dass sie erhalten bleibt. Und ihr Trittscheider macht einen guten Kauf, wo ihr nur den Metallwert zu zahlen braucht an die Buchholzer. Ich rat euch, nehmt die Grafenglock!" Wieso Grafenglock?" wollten die Trittscheider wissen und der kunstverständige Glockengießer erzählte der ganzen Gemeinde die Geschichte dieser seltenen Glocke. Zwei Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg ward sie auf der Grafenburg zu Niedermanderscheid von einem Wanderglockengießer für die Burgkapelle gegossen. 150 Jahre tat sie dort ihren Dienst, bis zum Jahre 1803, als die Dynastie der Grafen zu Manderscheid zu bestehen aufgehört hatte.
Damals wie heute wurde die gute Glocke plötzlich heimatlos, aber der alte Pastor von Buchholz hat sie in der Notzeit nicht fortgehen lassen. Im Turm zu Buchholz fand sie durch des Pfarrers Fürsprache ein neues Amt, das sie nun über 50 Jahr treu versah. Wie denn der Glockenmeister so trefflich gesprochen hatte, wurden sie bei der Gemeinde schnell eines Sinnes und die vornehme Grafenglocke konnte einziehen in das kleine Glockenstübchen im Dachreiter der Trittscheider Kapelle. Es hat die Trittscheider bis heute nicht gereut, dass sie der Heimatlosen aus der einstigen stolzen Grafenburg Niedermanderscheid ein bescheidenes Asyl gewährten. Sie lohnt den Lebenden den Edelmut der Vorfahren. Ehemals begleitete ihre Stimme zu Niedermanderscheid die Grafensöhne zur Taufe, umrahmte sie mit feierlichem Geläut den Lebensmaien der Hochzeitspaare, umwehte mit Trauerklang die dumpfe Totengruft.
Wie die Zeit jedes Erinnern an Gewesenes verwischt, so ist auch die Geschichte der Grafenglocke den Lebenden fast unbekannt geworden. Wenn die wohltönende Stimme vom alten Kirchlein in Trittscheid zum Angelus ruft, so denkt kaum einer daran, dass es die vornehme Grafenglocke ist, die seit über 300 Jahren schon dem wechselvollen Schicksal die eherne Zunge leiht, Rufer zum Ewigen und Künder und Deuter der Heimat zu sein".
Im Ersten Weltkrieg wird die Grafenglocke in Würdigung ihres historischen Wertes sogleich von der Ablieferungsliste gestrichen. Auch den Zweiten Weltkrieg übersteht sie unbeschadet. Wie von einer fremden Hand beschützt, wird sie vor der Verhüttung bewahrt.
Im Jahre 1958 baut die Gemeinde Trittscheid eine neue Kirche. Zwei alte wertvolle Figuren der heiligen Thekla und der heiligen Nothburga werden aus der alten Thekla-Kapelle in das neue Gotteshaus mitgenommen. Auch die Grafenglocke zieht mit um. Zusätzlich lässt man zwei neue Glocken bei der Glockengießerei Mark im nahen Brockscheid gießen. Die alte Grafenglocke läutet von nun an nur noch bei Beerdigungen.
Lange hatte man in Manderscheid den Wunsch, dass die alte Grafenglocke wieder zurückkehrt. Im Jahre 2015 ist es endlich soweit. Der Förderverein des Manderscheider Heimatmuseums hatte eine neue Glocke gießen lassen und erhält nun im Tausch die Grafenglocke. Am 26. September 2015, in Trittscheid feiert man die traditionelle Thekla-Kirmes, wird die alte Grafenglocke während eines Gottesdienstes in der Trittscheider Kapelle verabschiedet und die Neue gesegnet.
Am Vormittag des 7. Oktober 2015 kehrt die Grafenglocke nach 212 Jahren nach Manderscheid zurück. Sie ist wieder zu Hause. Am 11. Oktober wird sie im Heimatmuseum voller Stolz erstmals der Bevölkerung präsentiert. Hier erhält sie nun den ihr gebührenden Ehrenplatz.
Möge die Glocke des Grafen Philipp Diedrich auch weiterhin erhalten bleiben, als Symbol des Friedens und als ein Stück Geschichte unserer Heimat.